Menschenrechtsprinzipien und seelische Gesundheit von Migrant*innen: eine Fallstudie zur Situation in Griechenland

/userfiles/image/Bull_Image-05%3D07-21.jpg


Die Europäische Kommission hat kürzlich ihren lang erwarteten neuen Pakt zu Migration und Asyl vorgestellt. Was sich viele als Wendepunkt für die europäische Asylpolitik erhofften, insbesondere zur Entlastung der Ankunftsländer, wurde mit gemischten Reaktionen aufgenommen. Während der Vorschlag den Mitgliedsstaaten zwar einen gewissen Spielraum lässt (z.B. die Verteilung von Neuankömmlingen in Krisenzeiten), so birgt er auch das Risiko, langwierige Situationen wie in Griechenland zu vertiefen. Leider scheint der Pakt auch zu bestätigen, dass sich das Klima für Menschen, die Zuflucht in Europa suchen, nicht maßgeblich verändern wird

Als im Jahr 2015 Tausende von Migrant*innen die griechischen Küsten erreichten, kämpfte Griechenland mit fehlenden finanziellen Mitteln und den nach der Finanzkrise durch die Troika auferlegten Sparplänen. Geschützt durch internationales Recht stand das Land gleichzeitig vor der Herausforderung Migrant*innen aufzunehmen. Bis heute kritisieren zahlreiche Berichte die Bedingungen in den Aufnahmezentren, oftmals war von einer "Krise der psychischen Gesundheit" die Rede. Vor diesem Hintergrund haben wir im Sommer 2019 Erkundungsmissionen in Griechenland durchgeführt. Seitdem hat die neue Regierung ihre Migrationspolitik verschärft, eine ihrer ersten Initiativen war ein neues Gesetz zur Beschleunigung der Asylverfahren und zur Erhöhung des Tempos zur Rückführung. 

Menschen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, können vor dem Verlassen ihres Landes oder während der Reise traumatischen Erfahrungen ausgesetzt sein, sie können bereits vorher seelische Gesundheitsprobleme haben oder bei der Ankunft Probleme entwickeln. Die unmenschlichen und harten Aufnahmebedingungen spielen dabei eine zentrale Rolle."In Samos leben jetzt 5000 Menschen in einem Lager, das für 600 gebaut wurde - die Inhaftierung selbst verursacht psychische Probleme", erklärte ein junger Asylbewerber in Thessaloniki. "Ich konnte die Psychologin nicht sehen, weil sie sich um so viele Menschen kümmern musste."

Unklare Gefährdungsbeurteilungen und lückenhafte psychosoziale Unterstützungsangebote 

In dem Bemühen Bedürfnisse zu priorisieren führte die griechische Regierung ein sogenanntes "Gefährdungsbeurteilungsverfahren (vulnerability assessment)" ein, in Anwendung der EU-Richtlinie zur Neufassung der Aufnahmebedingungen. Schwangere Frauen, Asylsuchende mit Behinderungen oder Menschen mit "psychischen Störungen" etwa werden auf das Festland verlegt, während sie auf eine Entscheidung über ihren Asylantrag warten. Tatsächlich sind die zuständigen Einrichtungen der Nationalen Gesundheitsorganisation stark unterbesetzt und mit einer überwältigenden Anzahl von Antragsteller*innen konfrontiert. Im Jahr 2019 verfügte das öffentliche Krankenhaus auf der Insel Lesbos über zwei Psychiater*innen mit der Qualifizierung eine Diagnose zu stellen, welche den Antrag auf Vulnerabilität unterstützen könnte. Mit dem neuen Pakt der EU würden Gesundheits- und Gefährdungsbeurteilungen im Wesentlichen während des Screening-Prozesses vor der Einreise durchgeführt. Dieses Verfahren würde für alle Drittstaatsangehörigen gelten, die sich an der Außengrenze aufhalten ohne die Einreisebedingungen zu erfüllen, oder nach einer Such- und Rettungsaktion geborgen werden.

Aber zu bestimmen, wer in schwerer seelischer Not ist, wird angesichts der katastrophalen Aufnahmebedingungen ziemlich undurchsichtig. Im November 2018 äußerte die Menschenrechtskommissarin des Europarats ernsthafte Bedenken über die Verfahren zur Beurteilung der Gefährdung, während der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen im September 2019 forderte, die sofortige Überführung von Asylsuchenden von den Inseln auf das Festland sicherzustellen sobald diese als vulnerabel eingestuft wurden. 

Darüber hinaus verbessert der Erhalt des Status der Schutzbedürftigkeit und der Transfer auf das Festland nicht unbedingt die Situation für Asylbewerber*innen mit seelischen Problemen. Um die Zuweisung von Unterkünften für schutzbedürftige Menschen zu erleichtern, haben UNHCR und die griechische Regierung ein eigenes Programm zur Unterbringung eingerichtet - allerdings wird Personen mit schweren seelischen Problemen der Zugang verwehrt. Schlimmer noch, tatsächlich werden Personen mit Verdacht auf schwerwiegenden Problem (z.B: Personen mit Diagnose Schizophrenie oder mit Selbstmordgedanken) automatisch vom Programm ausgeschlossen - ohne geeignete Alternative. Diese diskriminierenden Barrieren zwingen Personen mit schweren seelischen Problemen dazu, entweder obdachlos, in informellen Siedlungen oder in isolierten Lagern auf dem Festland zu leben, mit wenig Zugang zu psychosozialer Unterstützung.

Über die Jahre haben Nichtregierungsorganisationen (NRO) ein breites Spektrum an Programmen psychosozialer Unterstützung eingeführt. Doch abgesehen von einer Handvoll spezialisierter Einrichtungen haben viele Initiativen Schwierigkeiten, langfristige Unterstützung durch Psycholog*innen oder Psychiater*innen anzubieten. Darüber hinaus berichteten alle befragten Fachkräfte, egal ob öffentlicher Träger oder NRO, von einer erheblichen Unterbesetzung und mussten in der Regel einige wenige Migrant*innen auswählen, die Zugang zu den Diensten erhalten sollten. 

Obwohl Asylsuchende theoretischen Anspruch auf Unterstützung in öffentlichen Einrichtungen haben, führen zahlreiche administrative Hürden beim Zugang zu einer Sozialversicherungskarte zu ihrem faktischen Ausschluss von Leistungen. Mit dem Gesetz zum internationalen Schutz aus dem Jahr 2019 wurde eine "temporäre Sozialversicherungsnummer für Drittstaatsangehörige" eingeführt, die die Deaktivierung der Karte erleichtert, wenn ein Asylantrag abgelehnt wird. Beim Zugang zu psychosozialen Diensten berichten Migrant*innen auch über negative Einstellungen des Personals oder Zwangsmaßnahmen in psychiatrischen Kliniken. Ein weiteres drängendes Problem bleibt der allgemeine Mangel an Dolmetscher*innen mit Fachkenntnissen im Bereich der seelischen Gesundheit, was zu längeren Wartezeiten und einem Gefühl der Entmündigung für Asylbewerber*innen führt. 

Eintreten für eine rechtebasierte Reform im Bereich der seelischen Gesundheit

Die griechische Fallstudie bietet eine Reihe von Bereichen, in denen der Staat verpflichtet ist, die Menschenrechte im Bereich der seelischen Gesundheit zu wahren. Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte stellte fest, dass das Recht auf Gesundheit "ein umfassendes Recht ist, das sich nicht nur auf eine rechtzeitige und angemessene Gesundheitsversorgung erstreckt, sondern auch auf die zugrunde liegenden Determinanten der Gesundheit", zu der auch Wohnraum sowie gesunde Arbeits- und Umweltbedingungen gehören. In diesem Sinne widersprechen  diesen Verpflichtungen sowohl das Versäumnis Griechenlands, Migrant*innen angemessene psychosoziale Unterstützungsdienste zur Verfügung zu stellen als auch die allgemeinen und andauernd katastrophalen Aufnahmebedingungen. 

Ein Bericht des Anti-Folter-Komitees des Europarats aus dem Jahr 2019 schlug zudem Alarm wegen "systemischer Überbelegung" in mehreren psychiatrischen Einrichtungen. Er beobachtete einen "kritischen Personalmangel und ein übermäßiges Vertrauen in die Pharmakotherapie", "die weit verbreitete Praxis des übermäßigen und/oder unangemessenen Einsatzes mechanischer Zwangsmaßnahmen" und unzureichende Sicherheitsvorkehrungen im Zusammenhang mit nicht freiwilligen Unterbringungsverfahren. Der Bericht weist darauf hin, dass einige Praktiken eines psychiatrischen Krankenhauses "leicht als unmenschlich und entwürdigend angesehen werden könnten." 

Wenn auch das Eintreten für eine engere Integration von Migrant*innen in das öffentliche Gesundheitssystem wichtig und notwendig ist, so muss dieser Aufruf mit Vorsicht betrachtet werden, da es das Potenzial für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und negative Auswirkungen auf Migrant*innen birgt. Während Sparmaßnahmen weiterhin das Gesundheitssystem belasten, können sich Menschenrechtsverteider*innen auf das Prinzip der sogenannten progressiven Verwirklichung berufen. Verankert im genannten Übereinkommen zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten fordert das Prinzip, dass ein Vertragsstaat im Rahmen seiner verfügbaren Ressourcen Schritte unternehmen muss, um schrittweise die volle Verwirklichung der Rechte zu erreichen. 

Menschenrechtsprinzipien können humanitären Organisationen und psychosozialen Fachkräften bei der Umsetzung von Programmen wichtige Orientierungshilfen bieten, insbesondere das Recht auf Teilhabe und Kontrolle der eigenen Gesundheit. Die Sicherstellung der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von qualitativ hochwertigen psychosozialen Diensten bleibt jedoch eine primäre Aufgabe des Staates. In dieser Hinsicht können sich humanitäre Organisationen, oft an vorderster Front in Notsituationen, auch für eine rechtebasierte Interessenvertretung einsetzen. Das Programm "Open Minds" von Médecins du Monde kann als interessantes Beispiel dienen: Der Bericht der Hilfsorganisation aus dem Jahr 2018 verurteilt die Auswirkungen der Sparmaßnahmen auf hinsichtlich der Reform des psychischen Gesundheitssystem und die chronische Unterfinanzierung der Einrichtungen, während gleichzeitig ein Anstieg der Nachfrage nach psychosozialen Unterstützungsangeboten dokumentiert wird.

 


Seelische Gesundheit ist genauso wichtig wie körperliche Gesundheit. In Anlehnung an diesen Artikel haben wir beschlossen, eine Liste von Unterstützungsdiensten für seelische Gesundheit in Griechenland zusammenzustellen, die Sie erreichen können: